[roterhund]

Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich alles um mich herum durch einen graustaubigen Schleiher, wie von tiefliegenden Wolken umgeben, nur roch ich, dass ich nicht im Himmel war, sondern immer noch auf dem kalten Asphalt dieser Stadt, die mich nicht loszulassen schien. In meine Nase stoch ein Cocktail aus nassem Beton, in Lack getränkten Luftballons und dem Schweiß tausender Menschen, die endlich die Freiheit gewonnen hatten, von der sie fast nicht mehr zu träumen gewagt hatten.

Ein Wald aus verstaubten Beinen tat sich vor meinen Augen auf. Tanzende, ungeduldige Schuhpaare, alle so wirr in ihrer neu gewonnenen Einigkeit. Weiter oben leuchtende, lachende, lebendige Kinderaugen, tränenfreudige, taumelnde Liebespaare, sich im Glas der aneinanderklirrenden Bierflaschen spiegelnde Zufriedenheit auf den Lippen.
Wie ich an diesen Ort gekommen war, wer mich hierher gebracht hatte, wusste ich nicht mehr, denn alles, was ich in meinem Kopf festgehalten hatte, war wie ausgelöscht. Das einzige, an das ich mich erinnern konnte, war dieser ohrenbetäubende Knall und dann war alles schwarz gewesen.

Das war der Tag, von dem an niemand sich mehr für mich interessierte.
All diese Menschen hatten von einer Stunde auf die andere ihren eigenen Weg klar vor Augen und mit jedem ersten Schritt begann irgendwo auf dieser Welt eine neue Lebensgeschichte.
Wenn auch meine Erinnerung so sehr ausgelöscht war, dass es mir in meiner rotbehaarten Brust vorkam als sei mein treues Herz ein Nadelkissen, so wusste ich doch sicher, dass auch ich mich auf den Weg machen musste.

Mit den ersten Schritten über das staubige Kopfsteinpflaster stieg eine stille Sehnsucht in mir hoch. Es wunderte mich nicht, schließlich war ich der rote Hund und trotz meiner zugegebenermaßen etwas ungewöhnlichen Fellfärbung war ich doch wie alle Hunde eine treue Seele, auf der Suche nach diesem einen, der zu mir gehört.
So spazierte ich mutterseelenallein durch den Wald aus Beinen, zwischen leeren Pappbechern und Konfettiregen, singenden Gemütern und gröhlenden Kehlen. Hier und da fiel ein Tropfen Schaumwein auf meine Nase, doch das war auch schon das einzige, an dem sie mich teilhaben ließen. Meine Gewissheit, dass es ihn irgendwo geben wird, diesen einen, diesen, der anders ist als diese graue Masse, die sich weder in ihrer Farbe noch ihrer Seelentemperatur vom Asphalt dieser Stadt unterschied, wuchs mit jedem Schritt.
Nur weil Du ihn nicht beachtest und ihn links oder rechts liegen lässt, heißt das nicht, dass er Dich auch nicht mehr sieht, Deine Stimme nicht mehr hört oder seine Ohren taub sind für Deine Geschichte. Vielleicht wird er gerade durch Deine Ignoranz umso aufmerksamer und feinfühliger für all diese Dinge, die nur ein roter Hund sehen und hören kann.
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Angelika Cichy via Facebook (Donnerstag, 10 August 2017 14:08)
Schönes Märchen vom roten Hund. Manchmal möchte man im realistischen Leben wirklich noch an Märchen glauben, aber wenn man einmal ausgesetzt wurde, hat man fast keine Chance mehr, irgendwo wieder in der Menschenwelt aufgenommen zu werden.
Gerri (Donnerstag, 10 August 2017 14:09)
Liebe Angelika!
Danke für's Lesen und Deine Aufmerksamkeit.
Leider ist das, was der rote Hund erzählt, kein Märchen, sondern die Realität in leicht abgewandelter Form. Alle Schauplätze, Personen und Handlungen sind wirklich passiert, jedoch vom roten Hund so erzählt, dass niemand erkannt werden kann. In den Liedern auf unserer CD wirst Du sicherlich das ein oder andere wiedererkennen, wenn Du die Texte genauso aufmerksam hörst, wie Du diesen gelesen hast.
Liebe Grüße von Gerri, Luise & dem roten Hund!