[roterhund]
Kaum hatte ich mir den Weg durch die freiheitsfeiernden Fremden gebahnt, wurde die Stadt von einer ungewohnten Stille überdeckt. Gedämpft wie durch Watte hörten meine roten Ohren die fetten
Stimmen und die Musik aus den Ghettoblastern auf ihren Schultern. Je weiter ich mich vom Zentrum dieser neu gewonnenen Freude entfernte, desto einsamer wurde der Asphalt.
Schon bald war ich ganz allein mit einer Reihe Straßenlaternen, die ihre orangegelben Kegel auf die schmale Seitenstraße stellten.
Mitten in einem dieser Kegel stand sie.
Die vermackelten Pfennigabsätze standen in seltsamem Winkel neben ihrer großen Handtasche, die sie auf dem Boden abgestellt hatte. Daneben auf dem Gehsteig lagen ihr iPhone und ihre Geldbörse, aus der offensichtlich zwei Hunderter heraus gefallen waren.
Unter dem schmalen Rock kam zum Vorschein, was üblicherweise entweder durch den Rock oder ein anderes Stück Stoff verdeckt wurde.
Die Reste ihrer Frisur erzählten schon aus der Entfernung von einer Nacht, in der weiß Gott etwas passiert sein musste.
Als ich näher an sie heran kam, konnte ich zwei abgebrochene pinke Fingernägel erkennen, die meinen ersten Eindruck bruchstückhaft ergänzten.
Nervös fingerte sie das stumme iPhone vom Boden auf und starrte auf das Display. Ihr zerbrochener Daumen drückte wie in Trance den Homebutton. Nichts. Nur das Licht vom Display ließ mich sehen,
wie ihre blaugrünen Augen überliefen.
Sie steckte das Handy wieder an seinen Platz in ihrer Weste und blickte sich hilflos, fast suchend um. Als sie mich bemerkte, wurden ihre Augen größer und ihr müder Kopf hob sich. Sie machte ein
paar Schritte auf die Straße und kam auf mich zu.
Wenig später hockte sie neben mir auf der gegenüberliegenden Gehsteigkante und wischte sich unbeholfen die Tränen vom Gesicht.
Er hatte es endgültig beendet.
Er gebe ihr keine weitere Chance.
Verzweiflung stieg in ihr hoch. Zitternde Hände rückten den zu kurzen Rock über die angewinkelten Beine, doch war es ein Ding der Unmöglichkeit die blauen
Flecken auf ihren Oberschenkeln mit dem bisschen Lederimitat zu bedecken.
Er hatte ihre sieben Sachen in einen blauen Müllsack gesteckt und sie gebeten, zu gehen.
Er könne so nicht weiter machen.
Ich schaute sie fragend an und dann, ich schämte mich dafür, auf ihre blauen Schenkel.
Sie schüttelte nur den Kopf und sagte: "Nein, das würde er niemals tun."
Ich konnte deutlich den Abdruck jedes einzelnen Fingers sehen, der sich wenig vor unserer Begegnung in ihre Beine gebort haben musste. Fragend schaute ich zurück.
"Es ist alles meine Schuld."
Unzählige Male schon hatte ich diesen Satz so selbstverständlich und selbstbemitleidend von Fremden gehört. So leicht, um nicht zu sagen unbeschwert hüpfte er über ihre Lippen wie ein Grashüpfer
im frühen Morgentau.
Aber dieser Tag hatte weder Morgen noch Abend, noch gab es in ihrem Blick die Hoffnung auf ein Übermorgen.
Anstatt ihm endlich einmal zu erklären, was geschehen war, futzelte sie eine zerfetzte Packung Taback aus einer anderen Tasche ihrer alles andere als weißen Weste und ein dünnes, weißes
Papierchen von woanders her. Schneller als er schauen konnte hatte sie auch das Plastiktütchen hervorgekramt und baute sich in gewohnter Routine dieses Teil, das sie wenig später mit starrem
Blick auf die gegenüberliegende Straßenlaterne Zug für Zug in sich aufsog.
Ihre verquollenen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Langsam wich die Verzweiflung aus ihren Mundwinkeln und schlug im halbminütigen Takt in angehende Entspannung, leises Schmunzeln und
schließlich lauthalses Gelächter um.
"Er ist ja auch selber Schuld."
Meinen verständnislosen Blick bezüglich dieser widersinnigen Aussage übersah sie. Stattdessen sprudelten Fetzen der Rechtfertigung und weiteren Widerspruchs aus ihrem Mund.
"... Er wollte immer nur das eine...
hat ihn nie interessiert, wie es mir damit geht...
egoistisches Schwein...
Hauptsache, ich mach die Beine breit...
und dann immer dieses 'wir müssen reden'
...was soll man denn da dauernd drüber reden?
... all die Jahre für die Tonne... hatten so schöne Zeiten... ich hab alles kaputt gemacht...
... ich hab ihm meinen Sohn in die Arme gegeben...
Erzieher... Ersatzvater, was war er eigenlich? Er hatte keine Ahnung, was ein Mutterherz empfindet... ich hab ihn gebraucht, ihn geschätzt...
... aber hat er jemals bemerkt, wie langweilig das Leben für mich ist... dadurch?
... Arbeit, immer nur Arbeit... ich hab ja gut verdient, aber...
wo sind wir geblieben?
Kein Wunder... dass ich dann mal zum Yoga geh... Ich brauch auch mal Zeit für mich... muss so viel nachholen... er ist selbst Schuld, wenn sich andere für mich interessieren.
Er tut es ja nicht, siehst du ja selbst."
Sie fuchtelte mit dem stillschweigenden iPhone vor meiner feuchten Nase herum, die fünfzehn Jahre voller Hass und Missgunst witterte. Das Gerät zeigte weiterhin nichts als ein schwarzes Display
und dann durch erneuten Druck ihres Daumens ein Bild von ihnen beiden auf dem sonst leeren Hintergrund.
Ich überlegte, ob sie mir leid tat.
Zwischen Fluchen, Kichern und Zorn begann sie wieder zu weinen. Ein dicker Tropfen fiel aus ihrem Augenwinkel direkt auf das Bild aus den so schönen Zeiten. Jetzt klingelte es. Aber das
Anruferbild auf dem Display zeigte nicht ihn, sondern einen dunkelhäutigen Anderen.
Ihr Blick erhellte sich schlagartig und sie richtete sich auf.
Das Gespräch dauerte nur wenige Sekunden. Ein 'Hallo Schatzi', eine Ortsangabe, ein 'bis gleich', aufgelegt.
Zufrieden nahm sie den letzten Zug und schnippte den Stummel achtlos in die Gosse.
Wenig später fuhr ein klappriger Sportwagen vor, sie stand auf, nahm die Handtasche vom Asphalt hoch, hängte sie über die Schulter und stieg zu dem Dunklen ins Auto. Ganz so als hätte es die Zeit
zwischen der einen und der anderen Straßenseite, als hätte es die fünfzehn Jahre nie gegeben.
Okay, dachte ich, sie tut mir nicht leid.
Erst als der Wagen bereits außer Sichtweite war, bemerkte ich ihren Geldbeutel, der noch immer auf der Straße lag und sah neben den zwei Hunderten die goldig schimmernde Münze liegen.

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Angelika via Facebook (Donnerstag, 10 August 2017 19:10)
Traurige Geschichte, aber so ist es halt mal in unserer herzlosen Zeit. Ob sie allerdings mit dem neuen Typen so schnell glücklich wird, ist die andere Frage. Trotzdem Hut ab, wenn sie nach so einem Erlebnis so schnell wieder Vertrauen in Menschen hat. Mir ist ähnliches mit einer Freundschaft passiert, aber ich habe KEINERLEI Vertrauen mehr in Menschen, außer zu den 3 Menschen, die ich schon WÄHREND meiner Trauerzeit hatte und die mir IMMER beistanden.